Fałków, 1941. Der junge Pole Walerian wird zur Zwangsarbeit nach Bremen verschleppt. Auf dem Hof bleibt er nur 10 Tage, hat Sprachprobleme, bekommt Heimweh. Plötzlich brennt die Scheune. Die Bäuerin lässt ihn von der Gestapo abholen. Er wird ins KZ Neuengamme gebracht. An ihm soll ein Exempel statuiert werden. Seit 2018 beschäftige ich mich mit dieser Geschichte, die auf tragische Weise mit meiner eigenen Familiengeschichte verknüpft ist.

Im Folgenden mein Essay aus dem Künstlerbuch zur Ausstellung. (English / Polish)

Ich lernte Luise 1986 kennen – kurz nach meiner Geburt. Meine Urgroßmutter war damals fast 80 Jahre alt. Wenn ich an die wenigen gemeinsamen Jahre zurückdenke, erinnere ich mich vor allem an die seltsame Aura, die sie umgab. In ihrer Nähe waren Alle irgendwie anders. Meine Oma hingegen, die ich sehr liebte, kannte ich als Pol der Ruhe und Freude. Doch wenn Luise zugegen war, war es damit vorbei.

Als ich in Bremen meine Schulzeit durchlebte, kreuzte im Unterricht die Erzählung von Walerian Wróbel meinen Weg. Für meinen Lehrer war es pädagogisch gesehen die vermutlich perfekte Geschichte für den Unterricht über nationalsozialistisches Unrecht. Ein minderjähriger Junge, damit die Jugendlichen jemanden haben mit dem sie sich identifizieren können. Eine Geschichte aus der Region, damit es für die Schüler*innen greifbar ist. Eine gewisse Aktualität hatte das Ganze auch noch, denn wenige Jahre zuvor fand ein Aufarbeitungsprozess statt, ein Buch wurde veröffentlicht und ein Spielfilm gedreht. Da gestaltete sich der Unterricht fast wie von alleine.

Was sich bei mir jedoch am meisten eingebrannt hat, war nicht der Inhalt des Unterrichts, sondern der Satz meiner Mutter: „Du weißt, dass das Luise war?“ Damals hatte dieser Satz für mich keine Bedeutung, ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt verstand, was sie meinte. Jahre, eigentlich sogar Jahrzehnte später, taucht dieser Satz in meinem Kopf wieder auf, ein altes Echo aus einer tiefen Höhle. Und dieses Mal verstehe ich.

Ich mache mich auf die Suche, wühle mich durch Archive und finde die Geschichte eines Jungen, der hingerichtet wurde, weil er aus Heimweh in der Scheune gezündelt haben sollte. Sogar selbst gelöscht hatte er noch, weil es wohl nicht seine Absicht gewesen war etwas zu zerstören, sondern nur Heim geschickt zu werden. Walerian Wróbel war zu diesem Zeitpunkt erst weniger als zwei Wochen auf dem Hof, wo er als „Ersatz“ für den kürzlich verstorbenen Bauern, meinen Ururgroßvater, diente. Dass meine Vorfahren sich damals entschieden ihn von der Polizei abholen zu lassen, ihn nicht zu schützen, sondern gegen ihn auszusagen, hatte fatale Konsequenzen für den Jungen. Luise, meine Urgroßmutter, lieferte damals die entscheidende Zeugenaussage. All dies führte ihn auf eine Odyssee aus Gefängnissen, Gerichtsräumen und dem Konzentrationslager Neuengamme. Walerian Wróbels Geschichte endete am 25. August 1942 im Alter von 17 Jahren in der Untersuchungshaftanstalt am Hamburger Holstenglacis 3, im heutigen Lüftungsraum. Das von der NS-Justiz damals neu eingesetzte Polenstrafrecht, gab diesem Unrecht seine Grundlage.

Auf der Suche nach der Geschichte finde ich mich auf dem Gelände des alten Hofes wieder. Allein zwischen Streuobst. Man ist so daran gewöhnt, überall Gedenktafeln und -stätten zu haben, dass einen hier ein Gefühl der Verlorenheit beschleicht. Zwischen Gräsern und unter Sträuchern blicken mir Ziegelsteine des ehemaligen Mauerwerks entgegen. Hier sind die Fundamente der Scheune, in der es damals gebrannt hat. Dort entlang muss Walerian gelaufen sein, vor fast 80 Jahren. Hier drüben liegen, unter Laub und Moos vergraben, noch alte Fliesen der Küche und die Mauern des darunter liegenden Kellers, über dessen Eingang, laut den Beweisfotos der Gestapo, die Streichholzschachtel gefunden wurde, die er zum Zündeln benutzt haben soll. Es ist eben diese Streichholzschachtel, die mir bei meinem ersten Besuch im Staatsarchiv aus einem alten Umschlag entgegenfällt. Geschichte zum Anfassen hier, Geschichte am Verrotten dort.

Eine Gedenktafel gibt es selbstverständlich. Sogar einen Gedenkweg. Doch beides befindet sich mehrere Kilometer entfernt von dem heute idyllischen Ort im Naturschutzgebiet Werderland, wo einst der Hof stand und heute die Streuobstwiese eines Naturschutzverbandes über den Mauerresten wächst. So, als ob Zeit und Natur am Ende doch gewinnen und langsam vergessen machen.

Meine Reise in die Vergangenheit führt mich auch in das kleine Dorf Fałków, wo Walerian 1925 geboren wurde. Nie fühlte ich mich mehr als Fremdkörper, auch wenn die Frau beim örtlichen Pizzaladen unglaublich freundlich ist. Vielleicht ist dieses Gefühl das beste Gefühl, um gegen das Vergessen zu kämpfen. Ein Unwohlsein, das einen nicht nur beschleicht, wenn man in Gedenkstätten auf dem Boden deutscher Konzentrationslager direkt mit dem Leid konfrontiert wird, das die Großeltern, Urgroßeltern oder Ururgroßeltern ihren Mitmenschen zugefügt haben. Sondern ein universales Unwohlsein, dass es, wenn die eigene Familie damals im nationalsozialistischen Deutschland lebte, durchaus wahrscheinlich ist, Täter*innen oder Mitläufer*innen in der Familie zu haben, die mindestens von dem Leid anderer profitiert, wenn nicht direkt daran mitgewirkt haben. Nazi-Deutschland wäre nicht Nazi-Deutschland gewesen, hätte es so viele Widerstandskämpfer*innen gegeben, wie einander in den Familien gerne erzählt wird.

Unwohlsein ist gut. Unwohlsein heißt nicht: Schuld und Verdammnis. Diejenigen, die wirklich Schuld tragen, gibt es kaum noch. Unwohlsein heißt: Bewusstmachung, Wahrnehmung und Nicht-Vergessen. Wohl genutztes Unwohlsein führt – bestenfalls – zu Dialog und Versöhnung. Für mich soll diese Arbeit ein erster Schritt dorthin sein.


Diese Arbeit entstand in den Jahren 2018 bis 2021 und wird erstmal im Rahmen der Ausstellung VIERZEHN der Absolventenklasse 2020/21 der Ostkreuzschule für Fotografie zwischen dem 27. August und dem 05. September 2021 in den Räumen des Treptow Ateliers e.V. in Berlin-Oberschöneweide ausgestellt. Zur Ausstellung erscheint ein Künstlerbuch (Auflage 75).

Projekttext: In Luise. Archäologie eines Unrechts gibt Stefan Weger (*1986 in Bremen) einen Einblick in die Geschichte Walerians und der Bauerstochter Luise, seiner Urgroßmutter, welche auf tragische Weise zum Schicksal des minderjährigen Zwangsarbeiters beigetragen hat. Dem Ansatz der research-based photography folgend, sucht er als Teil der vierten Nachkriegsgeneration nach neuen Antworten auf die Fragen nach Schuld und Verantwortung sowie nach zeitgemäßen Formen des Erinnerns an das Unrecht im Nationalsozialismus – gerade als Nachfahre der Tätergesellschaft. In der Auseinandersetzung mit historischem Material, sowohl aus staatlichen als auch privaten Archiven, und dem verfallenen Bauernhof gelingt ihm eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus anhand der eigenen Familiengeschichte.